Chaos als Kunst: Die Schauspieler beim Proben.

Reichelsheim. Wer am Abend des 15. November in die Reichenberghalle kam, wurde rasch Zeuge einer jener Theatererlebnisse, die erst wie leichte Komödien daherkommen, sich dann aber Schicht um Schicht als ernsthafte Reflexion über unsere Gegenwart entpuppen. Die neueste Produktion des Novembertheaters unter der Leitung von Eleonora Venado – „Breite Schmurchel – Found and Lost Again“ – knüpft lose an den berühmten Fundstück-Montagetitel von Kurt Schwitters an, doch vor allem verwandelt sie alltägliches Gerümpel, improvisiertes Chaos und musikalische Impulse in ein kluges Spiel über Ordnung, Freiheit und die Zumutbarkeit des Gemeinsamen.

Von Beginn an spürt man, dass Venado der Versuchung widerstanden hat, klassische Figuren in den Mittelpunkt zu rücken. Stattdessen setzt sie auf ein Miteinander von Menschen, die miteinander ringen – mit ihrem Material, ihrer Umgebung, ihren eigenen Ordnungsimpulsen. Diese Entscheidung, so betonte sie im Interview, lenke den Blick weg von psychologischen Rollen und hin zum gemeinsamen Prozess. Das Ensemble greift diesen Ansatz mit beeindruckender Konzentration auf: Jede Bewegung scheint aus dem Moment geboren, bleibt aber zugleich eingebettet in ein durchdachtes Gefüge aus festgelegten Abläufen. Die Spannung entsteht genau dort, wo das Unvorhersehbare ins Spiel drängt – etwa wenn ein Gegenstand plötzlich anders liegt oder ein Weg versperrt ist – und das Ensemble spontan reagiert, ohne das übergeordnete Konstrukt zu verlassen.

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Der Abend beginnt bereits vor dem eigentlichen Stück mit einer musikalischen Hinführung, präsentiert von zwei Musiklehrern der GAZ, die verschiedene „Ordnungen“ in der Musik entwirren. Dann öffnet sich das WG-Zimmer der Bühne – ein Schlachtfeld aus Alltagsresten, Erinnerungsstücken und Dingen, die offenbar niemand wegwerfen will. Der Anspruch, das wüstenhafte Durcheinander zu bändigen, löst ein Geflecht aus Slapstick, Verzweiflung und philosophischem Augenzwinkern aus. Und wie so oft im Leben scheitert Ordnung an allem, was sich ihr widersetzt: Temperamente, Zufälle, unumstößliche Eigenlogiken der Dinge.

Einer der Höhepunkte – und das zeigte sich auch diesmal im Reichelsheimer Publikum – ist der Staubsaugermonolog von Saxofonistin Jennifer Müller, ein kabarettreif dargebotenes Miniaturstück über Sinn und Unsinn des Reinigungszwangs, getragen von einer Mischung aus Pseudowissenschaft, Selbstironie und grotesker Genauigkeit. Ältere Zuschauer lachten Tränen, während Jüngere eher irritiert die Stirn runzelten.

Auch die übrigen Ensemblemitglieder – Cornelia Dassbach, Simon Dettmann, Nico Michels, Tina Rudolph, Katharina und Patrick Wölfelschneider sowie Ulli Zelta Rosche – tragen den Abend durch eine enorme körperliche Präsenz. Wie Patrick Wölfelschneider mit dem Zollstock den Raum vermisst, wie Katharina Wölfelschneider mit fein modulierten Grimassen innere Kämpfe ausspielt, wie Nico Michels aus einem Beistellschrank „auftaut“, all das erzeugt ein vibrierendes Bild: Ordnung funktioniert nie als neutraler Akt. Sie schafft Konflikte, fragt nach Regeln – und vor allem danach, wer sie festlegt.

Musikalisch ist die Produktion ohnehin ein eigenes Kunstwerk. Klavier (Guanqiao Li), Schlagwerk (Rico Osswald) und der Doppel-Saxofonsatz (Jennifer Müller und Sebastian Rosche) schaffen eine Klangwelt, in der Zwölftonmusik neben atmosphärischen Setzungen steht. Die Lieder zitieren Physik, Philosophie, Literatur – vom Entropiebegriff bis zu Eichendorffs „Schläft ein Lied in allen Dingen“ – und verleihen dem Geschehen immer wieder eine poetische, manchmal beinahe sakrale Komponente. Ordnung, so sagt Venado, sei ein Kernbegriff der Demokratie – und zugleich ein fragiles Versprechen. Am Ende türmt sich auf der Bühne ein fragiler Bau aus Gegenständen – ein augenzwinkernder Verweis auf babylonische Ambitionen und das ewige Missverhältnis zwischen Ordnungsideal und Weltwirklichkeit. Ein perfekter Schluss für ein Stück, das nicht belehrt, sondern einlädt: Man darf Chaos auch einmal an sich heranlassen.

Für alle, die die Reichenheimer Aufführung verpasst haben oder das Stück erneut erleben möchten, gibt es übrigens noch eine letzte Gelegenheit: Die Dernière findet am 7. Februar 2026 um 19.30 Uhr im Bannoser Theater in Brensbach statt.

Ein Abend, der sich – so viel kann man versprechen – unbedingt lohnt. Aleksandar Kerošević

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